Genau genommen hat Gott selbst mit der Säkularisierung angefangen, ...
von Richard Geier
... die heute so vielfach beklagt wird! Als er in Jesus Mensch wurde, hat Gott die Trennung von Himmel und Erde aufgehoben. Er verlässt seinen Thron im Himmel und wird ein Kind. Er will kein „theos“ mehr sein, sondern ein Mensch. So gesehen ist Gott der erste Atheist. Gott als Mensch in der Gestalt eines kleinen Kindes! Das Übernatürliche als das Natürliche! Das ist das gottgewollte Ende aller Religion, aller falschen Religion, aller falschen Gottesbilder. Es gibt keinen Gott mehr, der in der Höhe thront. Gott ist die Tiefe des Lebens, die Mitte der Welt, das Herz der Materie. Gott will nicht mehr angebetet und verehrt werden. Er will gelebt werden.
Das Christentum ist von Anfang an keine ausschließlich transzendente Religion, sondern in erster Linie eine Existenzreligion. Solange wir das nicht sehen wollen, funktioniert unser Glaube und unsere Kirche in säkularisierten Zeiten nicht! Wie Gott selbst muss sich auch die Kirche wieder neu zum Menschen hin bekehren, jeden Menschen wie einen Gott verehren, das Natürliche achten und nicht gegen das Übernatürliche ausspielen. Die Kirche muss heraus aus einer selbst geschaffenen Blase einer durch Gottes eigenen Willen vergangenen Religion, in der die Kirche in Worten ertrinkt, die nichts mehr bedeuten. Es geht um eine Bekehrung der Kirche zum Leben. Alles Leben ist Gottes Leben! Verehrt das Leben so, wie ihr Gott verehrt!
Den wirksamsten Anstoß zu dieser Erkenntnis hat mir als Theologe Dietrich Bonhoeffer mit seinen Briefen aus dem Gefängnis in Berlin-Tegel gegeben. Am 16. Juli 1944 schrieb er an seinen Freund Eberhard Bethge: „Gott als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ist abgeschafft, überwunden; ebenso aber als philosophische und religiöse Arbeitshypothese. Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit, die Arbeitshypothese fallen zu lassen bzw. sie so weitgehend wie irgend möglich auszuschalten … Und wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, dass wir in der Welt leben müssen – etsi deus non daretur. Der Gott, der uns in der Welt leben lässt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott!“
Bonhoeffer nennt Gott eine Arbeitshypothese, die ausgedient hat. Im Grunde meint er damit eine vormoderne Gottesvorstellung, die nicht mehr trägt: Gott lebt in der Höhe, in einer Art parallelen Welt, von der die Welt des Menschen getrennt ist. Dieser Dualismus regierte das religiöse Denken der Menschen von der Antike bis zur Moderne. Zum Kern des Christlichen gehört aber, dass Gott die Zweiteilung überwunden hat, nicht nur in der Menschwerdung Christi, sondern schon in der Schöpfung. Gott ist nicht im Himmel, er kommt im Gewand des Lebens zu uns. Die Erfüllung des Christlichen ist die Gewahrwerdung der göttlichen Präsenz im Lebendigen. Es geht um die Wahrnehmung des Lichtes, das durch die Dinge und das eigene Leben hindurch scheint.
Die Mystik ist heute für mich die sinnvollste Form des Religiösen in der modernen Zeit. Jesus selbst war ein Mystiker und das reicht mir, um ihn für den vollendetsten Menschen zu halten, der jemals gelebt hat. Sein Erlösungswerk besteht darin, dass er durch seine Mystik die Menschheit von falschen Gottesbildern befreit hat.
Was ich hier als Grundprinzipien einer inkarnatorischen Mystik beschreibe, hat natürlich enorme Konsequenzen für die Pastoral in säkularisiertem Kontext bzw. für die sogenannte „missionarische Pastoral“.
Vor allem Letztere funktioniert ja anscheinend nur unter dem Vorbehalt, dass Gott den Menschen von heute „fehle“. Sie ergeht sich in der Kritik an der Autonomie des modernen Menschen, die sich oft als Abkehr von der institutionellen Religion zeigt. Doch es gilt: Noch ehe der Missionar Gott den Menschen bringt, ist Gott schon bei den Menschen da. Missionarische Pastoral in Zeiten der Säkularisierung braucht zuallererst Respekt vor den Menschen und ihrer selbstgewählten Form des Lebens.
Gerade junge Menschen emanzipieren sich zurecht von vormodernen Gottesbildern. Sie leben ihr Leben oft so, als gäbe es Gott nicht! Doch diese Lebensweise ist nicht nichts! Jedes Leben, auch wenn es noch selbstbefangen und unbewusst sein mag, ist ein Selbstausdruck Gottes. Jeder Atemzug – und davon macht ein Mensch am Tag tausende – ist ein Gottesbeweis, jede Form von Lebensbejahung und Liebe, die zwischen Milliarden von Menschen hin und her vibriert, ist Gotteslob. Jede Mutter, die ihr Kind stillt, und dabei das Kind liebevoll anlächelt, ist eine Missionarin des göttlichen Lebens.
Worin besteht dann der Mehrwert der christlichen Botschaft? In der Überführung des Profanen in das Sakrale? Gewiss nicht!
Wer die Welt sakralisieren will, kann sich nur schwer auf Jesus berufen! Er war ein großartiger Mystiker und gleichzeitig ein radikaler Säkularisierer! Man braucht bloß an seinen Umgang mit dem Sabbat zu denken, der in seinen Augen eben nicht für Gott, sondern für die Menschen da ist. Ebenso behauptete er, dass das Reich Gottes nicht im Himmel sondern mitten unter den Menschen ist. Er forderte das Heil nicht nur für die Frommen, sondern für alle. Letztlich war seine Sprache nicht besonders religiös sondern eher alltäglich und säkular. Von Jesus müssen wir lernen, dass der Weg der mystischen Gotteserfahrung nicht neben oder hinter oder über den menschlichen Erfahrungen ansetzt, sondern in diesen selbst.
Die Dynamik einer inkarnatorischen Mystik besteht darin, dass das Leben selbst zum Erfahrungsraum Gottes wird, eines Gottes, der nicht allein hinter Kirchenmauern lebt und sich dort anbeten und verehren lässt. Gott will in der Welt diesseitig und jenseitig zugleich werden.
Nach Jahrhunderten eines dualistischen Sühne-Erlösungsschemas brauchen wir eine Wende zu einer wertschätzenden Theologie des Säkularen ebenso wie zu einer säkularen Theologie. Verzerrungen der Gottesrede Jesu (Stichwort „Opfer“) müssen überwunden werden, auch und gerade im Gottesdienst. Dabei gilt es, zum Kern des Problems vorzudringen: Was ist Erlösung? Die Korrektur eines fehlerhaften Schöpfungsentwurfs durch ein blutiges Opfer? Jesus hat genau solche Vorstellungen kritisiert! Oder ist Liturgie die Feier der Lebensgaben, die uns von Gott geschenkt sind und die durch die Menschwerdung des Gottessohnes geheiligt wurden. Die Welt selber ist das Heilsereignis, das in der Liturgie gefeiert wird! Der Glaube wird in der Diesseitigkeit gelernt. Oder wie die große Mystikerin der Arbeitswelt, Madeleine Delbrel es unsagbar schön ausgedrückt hat: „Wer Gott umarmt, findet in seinen Armen die Welt!“
Man möchte es weiter spinnen: Wer die Welt umarmt, findet in ihren Armen Gott!
Dr. Richard Geier, Pastoralamtsleiter in der Diözese Eisenstadt
„Es verändert sich“ – zu den Logiken von Suchprozessen
Wir sind mittendrin in Veränderungsprozessen in der Kirche. Wir suchen nach neuen Formen, neuen Strukturen, neuen Orten. Schon lange merken wir, dass vieles verloren gegangen ist, nicht mehr greift, nicht mehr ankommt. In unterschiedlichen Prozessen suchen wir in den Diözesen, in den Orden, in Dekanaten und Pfarrverbänden nach neuen Wegen. Der Druck ist groß. Immer wieder gibt es neuen Elan und zwischendurch Müdigkeit und Frust. Wir sind hineingestellt in einen Transformationsprozess mit unvorhersehbarem Ausmaß.
Im Kontakt mit jungen Kolleginnen und Kollegen oder mit den Studierenden bin ich oft überrascht über ihre Kritik an Vorgängen und Strukturen in der Kirche, aber auch über ihre Zukunftsbilder. Sie haben ganz anderes im Sinn als ich. Ihre Hoffnungen, ihre Ideen sind manchmal außerhalb meines Denkhorizonts. Das tut gut, ist erfrischend, manchmal auch irritierend: Wie soll das gehen? Es ist zum großen Teil meine Generation, die derzeit so intensiv mit dem Suchen beschäftigt ist. Wie können wir gute Spuren legen, passende Wege eröffnen?
Zwischen Suchen und Finden
Ein Gedanke von Pablo Picasso trifft mittenhinein in diese Spannung. Er schreibt: „Ich suche nicht – ich finde. Suchen – das ist Ausgehen von alten Beständen und ein Finden-Wollen von bereits Bekanntem im Neuen. Finden – das ist das völlig Neue! Das Neue auch in der Bewegung. Alle Wege sind offen und was gefunden wird, ist unbekannt. Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer!“
Wir sind es gewohnt, die Bewegung vom Suchen zum Finden als eine Dynamik, als einen Prozess zu sehen und zu verstehen. Das Suchen ist der Ausgangspunkt. Das ist die vertraute Logik.
Picasso dreht das gewissermaßen um und auch Goethe nimmt uns in eine andere Logik mit hinein. Sein Gedicht „Gefunden“ beginnt so:
„Ich ging im Walde so für mich hin,
und nichts zu suchen, das war mein Sinn.
Im Schatten sah ich ein Blümchen steh'n,
wie Sterne leuchtend, wie Äuglein schön.“
Hier entdecke ich ein Finden, dem kein Suchen vorausgeht. Mit diesen Gedanken und Bildern von Picasso und Goethe schaue ich auf unsere Struktur- und Veränderungsprozesse in der Kirche. Meistens, so scheint mir, sind wir eingespannt in der Logik des „Suchens, um zu finden“. Am Beginn eines Prozesses legen wir die Ziele fest, wir umschreiben möglichst genau das Gesuchte. Wie sonst sollen wir uns auf den Weg machen? Wir haben viel gelernt und übernommen von den Organisationsentwicklungs-Expert/innen. Das soll nicht schlechtgeredet werden. Strukturierte Prozesse haben in den letzten Jahren in unserer Kirche vieles ermöglicht. Ich will auch die Logik des „Suchens, um zu finden“ nicht ausspielen gegen die Logik des „Findens, ohne zu suchen“. Es bringt nichts, die Spirituellen gegen die Macher auszuspielen und umgekehrt. Die Spannung gilt es, in uns selbst auszutragen, in uns als Einzelpersonen und in unseren Gremien.
Engagement und Gelassenheit
Es gibt dieses etwas kryptische Wort, das dem hl. Ignatius zugeschrieben wird: "Wir müssen so auf Gott vertrauen, als ob alles von uns, nichts von Gott abhinge. Wir müssen unsere Kräfte aber so einsetzen, als ob alles von Gott, nichts von uns abhinge." (Zu diesen Überlegungen vgl.: Vitus Seibel SJ, Entschluss 52 (1997) 25-27)
Die erste Hälfte des Spruches erinnert mich an das Gleichnis von den Talenten (Mt 25,14-30). Das größte Vertrauen auf Gott hat der, der sich von ihm herausfordern lässt zum Tun. Gott will durch uns wirken. Er hat uns mit Begabungen ausgestattet. Er schenkt uns Verstand und Wirkkraft. Es ist keine überhebliche Sache, aktiv zu sein. Gott ruft uns in die Verantwortung.
In der zweiten Hälfte geht es darum, dass wir die Verbissenheit aus unseren Aktionen nehmen. Wir müssen nicht meinen, dass das Reich Gottes nicht gelingt, wenn wir nicht eigenhändig und sofort alles reparieren, was schief geht. Und wenn wir nicht weiter wissen, brauchen wir nicht hyperaktiv zu werden.
Vitus Seibel beschließt seine Überlegungen folgendermaßen: „So kann schließlich eine Haltung entstehen und immer mehr wachsen, die engagierten Ernst und heilige Sorglosigkeit in fruchtbringender Spannung zu kombinieren weiß. Keine schlechte Mischung, wie mir scheint, damit das Reich Gottes komme.“
Anna Findl-Ludescher
(Assistenzprofessorin für Pastoraltheologie,
geschäftsführende Vorsitzende des Österreichischen Pastoralinstituts)