Konfliktkultur: Ermahnung - Verantwortung für den Bruder
„Wenn dein Bruder sündigt, dann geh zu ihm und weise ihn unter vier Augen zurecht. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen.“ (Mt 18,15)
Evangelium:
Verantwortung für den Bruder (Mt 18,15-17, Lk 17,3)
Die Zurechtweisung des Bruders / der Schwester scheint festen Spielregeln zu folgen. Der erste Schritt – die Mahnung unter vier Augen – wahrt die Intimsphäre, stellt niemanden bloß und versucht, einen Konflikt im kleinstmöglichen Rahmen zu lösen. Es geht nicht um eine Kleinigkeit. Unter „Sünde“ kann man schon etwas „Handfestes“ verstehen, bei dem das Unrecht offensichtlich ist. Eine skrupulöse Beobachtung von Verfehlungen ist nicht gemeint.
Die Identifizierung einer Handlung als „Sünde“ ist nicht leicht, da die Situation oft nicht eindeutig ist. Dadurch wird das Handeln verschleiert und kann in seiner tatsächlichen Bedeutung unerkannt bleiben. Es braucht also jemanden, von dem man auf das eigene Tun hin angesprochen wird. Und das ist einer, der es gut meint. Heute wird er jedoch zunächst unter dem Verdacht stehen, er wäre anmaßend, kleinlich, verständnislos, unbarmherzig, streng, hart usw. Abgesehen davon: Wer wagt es überhaupt, etwas ernsthaft als „Sünde“ zu bezeichnen? (Die Sprache hat den Begriff „Sünde“ dramatisiert, hochstilisiert, banalisiert, ironisiert, emotionalisiert usw.; dass es sich um eine Trennung von Gott oder eine Trübung der Beziehung zu Gott und den Menschen handelt, wird nicht wahrgenommen.) Wer den Begriff „Sünde“ heute verwendet, wird nicht verstanden.
Es ist keine leichte Sache, jemanden zu ermahnen. Und da es nicht um Lehrmeisterei geht, obwohl das so gedeutet werden kann, muss deutlich werden, dass es um die Sorge für einen geschätzten, ja geliebten Menschen geht. Ein Mahner folgt dem Auftrag Jesu, weil er letztlich einen Menschen nicht verlieren will, dem er verbunden ist. Dahinter steht das Motiv der Liebe.
Wo das Zwiegespräch nicht hilft, müssen dem Ernst der Sache entsprechend weitere Schritte folgen. Eine kleine Gruppe, eine beschränkte Öffentlichkeit wird hinzugezogen, sodass das Problem im kleinen Kreis bleibt. Ein zu schnelles Hinausgehen in die größere Öffentlichkeit würde Positionen verhärten und jemanden in die Enge treiben, der sich dann nur mehr unterwerfen (aber das wäre unwürdig) oder die Gemeinschaft verlassen könnte, was schmerzhaft und unverständlich wäre.
Zwei Personen sollen bei einer Vermittlung helfen. Vielleicht ist das erste Gespräch nur verunglückt. Es geht nicht um eine Art Supervision der Konfliktsituation, sondern um Verdeutlichung einer Sünde und deren Konsequenzen sowie um das Bemühen, Einsicht und Reue zu eröffnen. Nicht zu vergessen: Man will einen Menschen gewinnen – und ihn nicht von oben herab schulmeistern!
Besonders der Stil dieses Gespräches wird wichtig sein. Niemand soll in eine „Rolle“ schlüpfen, weder in die eines „Lehrers“ noch in die eines „Kindes“, das Ausflüchte sucht.
Bei Erfolgslosigkeit dieses zweiten Versuchs ist die Gemeinde zu mobilisieren. In unseren Breiten ist das so nicht durchführbar. Die Situation der neutestamentlichen Gemeinden war anders. Ein Ausschluss aus der Gemeinde damals ist mit einem Kirchenaustritt heute nicht vergleichbar. Auch die Beziehungen der neutestamentlichen Gemeinden zu Heiden oder Zöllnern sowie mit dem gesamten kulturellen Umfeld haben mit der Beziehung heutiger christlicher Gemeinden und Vereinigungen zu nicht-christlichen Gemeinschaften keinen Vergleich.
Ein Grundgedanke soll klar sein: es geht um das Gewinnen eines Menschen, der Hilfe zur Umkehr braucht. Wenn er dies nicht annimmt, kommt es zur Entscheidungssituation: Willst du Christ sein? Was bedeutet dir Christus?
Aber die Grenzen zwischen Christen und Nicht-Christen im Umfeld eines Auswahl-Christentums sind fließend. Auch die Form und das Bewusstsein von Zugehörigkeit ändern sich ständig. Und so stellt sich die Frage: „Christ sein – ja oder nein“ kaum je bewusst.
Für eine christliche Konfliktkultur bleibt vor allem der Mut aus Liebe gefordert, den Weg zum anderen zu gehen, von dem man meint, dass er auf einem Irrweg geht. Es braucht eine Sensibilität für die Erkenntnis von Irrwegen in der Gemeinde. Die Grauzone, in der sich viele Handlungen und Lebensstile bewegen, macht es schwierig, eine „Sünde“ als Sünde zu erkennen und zu beurteilen. Trotzdem ist ein Gespräch in Liebe immer ein guter Weg. Es geschieht ja aus Anteilnahme und Sorge, nicht um einer Belehrung willen.
Nichts ist so eindeutig wie das, was man unterlässt (Tucholsky). In diesem Sinn fordert eine christliche Konfliktkultur zum offenen Wort in geeignetem Rahmen und in angemessenem Stil heraus. Sie muss Empfindlichkeit und Vorverurteilungen vermeiden und braucht den Mut zu Konsequenzen. Wo die Einnahme gegensätzlicher Standpunkte grundsätzlich und in christlichem Sinn unüberbrückbar wird, sollen diese nicht oberflächlich harmonisiert oder verharmlost werden. Das soll mitmenschliche Beziehungen so wenig wie möglich hindern trotz einer gewissen, vielleicht klaren Trennung.
„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden. (Mt 7,1-2)
Evangelium:
Splitter – Balken (Mt 7,1-5, Lk 6,41-42)
Eine der eindringlichsten Mahnungen des Neuen Testaments angesichts einer christlichen Konfliktkultur ist der Auftrag zur Selbstbesinnung, bevor man andere kritisiert und sich an ihnen stößt. Da dies für einen bemühten Christen theoretisch klar ist, müssen die Schwierigkeiten in der Praxis auf einer schwer zugänglichen Einsicht in die Verhältnisse beruhen. Ich denke, es sind die Probleme der Wahrnehmung und der Bescheidenheit.
Nur bei ehrlicher Gewissenserforschung erkenne ich den Balken in meinem Auge. Denn zunächst sehe ich höchstens Splitter bei mir, die zumeist gut erklärbar sind, die ich eigentlich im Griff zu haben meine. Außerdem kann ich selbstverständlich erwarten, dass andere über diese meine kleinen Unvollkommenheiten hinwegsehen… – Aber es kommt auf die Haltung an! Nach der Feststellung meiner geringfügigen Fehlerhaftigkeit kann ich mich mit anderen vergleichen. Was mich bei diesen stört, hat viel größere Ausmaße als bei mir selbst. Im Normallfall werde ich die Fehler der anderen nie kleiner einschätzen als meine eigenen. Und genau hier liegt der Irrtum, der bei einem zu raschen Verstehen dieser Bibelstelle entsteht. Es geht nicht um einen Vergleich zwischen mir und anderen aus meiner Sicht, sondern von Gott her. Und das sollte mich zu mehr Demut mahnen.
Denn die Betrachtungsweise dieser Bibelstelle setzt jemanden voraus, der über den anderen urteilt und sich für besser hält. Das ist – objektiv – bereits eine Haltung der Arroganz, ja der Selbstherrlichkeit, auch wenn dies – subjektiv – nicht so gesehen wird. Insofern macht vielleicht genau dies (die Arroganz) die Größe des Balkens aus, deretwegen die Fehler der anderen vor Gott vergleichsweise nur mehr die Ausmaße eines Splitters erreichen. Denn Gott sieht nicht nur das „Tun an sich“, sondern alle Haltungen, in denen ein Mensch lebt und handelt.
Eine christliche Konfliktkultur mahnt, sich und die anderen von Gott her zu betrachten. Großzügigkeit ist angesagt, das Gott mir das gleiche Maß zusagt, wie ich es dem anderen gewähre. Ein gutes Stück Demut soll mich in – manchmal unvermeindlichen – Konflikten begleiten, damit ich nicht zum Richter oder Oberlehrer des anderen werde, sondern zum Diener, der ihm hilft, auch den kleinen lästigen Splitter zu entfernen, der ja gar nicht wirklich zu seiner Persönlichkeit gehört. Ein hoher, ein gerechter, ein befreiender Anspruch, bei dem es auf die Einstellung ankommt!
Konfliktkultur: Verhärtung - Die Sünde gegen den Heiligen Geist
„Jedem, der etwas gegen den Menschensohn sagt, wird vergeben werden; wer aber den Heiligen Geist lästert dem wird nicht vergeben.“ (Lk 12,10)
Evangelium:
Von der Sünde gegen den Heiligen Geist (Mt 12,31-33, Mk 3,28-29, Lk 12,8-10)
Jesus macht es uns nicht leicht, hier zu verstehen, was er meint. Deshalb kann niemand sicher sein, dies voll ergründen zu können.
Im Verhältnis der Menschen zu Jesus gibt es einen Unterschied zwischen „Sich-nicht-zu-ihm-bekennen“ und „Etwas-gegen-ihn-sagen“. Ein Bekenntnis ist umfassend, ganzheitlich, Worte sind nur ein Teilaspekt. Hinter einem Bekenntnis steht ein Mensch mit seiner ganzen Persönlichkeit, Worte können neu überlegt und zurückgenommen, eine Meinung kann geändert werden. Das erinnert an das Gleichnis von den beiden Söhnen (Mt 21,28-31) und an die Verleugnung durch Petrus (Mt 26,69-75; Mk 14,66-72; Lk 22,55-62; Joh 18,15-18.25-27). Die gesprochenen Worte entsprechen nicht den späteren Taten. Denn im Gleichnis von den beiden Söhnen ist es der sich in Worten verweigernde Sohn, der später den Willen des Vaters tut. Man könnte sagen: In seinem Tun bekennt er sich zum Vater. Der andere redet zwar schön, bekennt sich de facto aber nicht zum Vater.
Dass Jesus Vergebung vorhergesagt hat für jene, die etwas gegen ihn sagen, klingt gutmütig. Es bedeutet dann eigentlich nichts, wie jemand von oder über Jesus redet – oder? Das ist ein Problem! Ein Liebender, einer der sich zu Jesus bekennt, verkraftet schwer, wenn von dem Geliebten und Geschätzten abfällig oder ihm gegenüber feindselig und diskriminierend gesprochen wird. Außerdem ist es naheliegend, abfällige Worte in Verbindung mit einer abfälligen Haltung und mit Feindseligkeit zu vermuten.
Im Gegensatz zu unserem Empfinden scheint Jesus eine verbale Ablehnung nicht so tragisch zu nehmen. Er verharmlost sie nicht, da sie sicherlich negative Konsequenzen für die Grundhaltung eines Menschen ihm gegenüber haben wird, aber letztlich bedeuten Worte allein nicht wirklich Trennendes.
Somit ergibt sich für eine konflikthafte Begegnung von Christen und Menschen, die etwas gegen Jesus sagen, eine Ermutigung zur Gelassenheit. Gerade in einer pastoralen Situation kann man innerlich ruhig bleiben. Das heißt nicht, dass man mit seiner Leidenschaft für Jesus, mit Argumenten oder mit Widerspruch hinter dem Berg halten soll, aber die vor Gott gültige Vergebung hängt nicht von uns ab.
Das entlastet davon, eine mangelnde Erkenntnis Jesu bei anderen unbedingt nachholen zu müssen (– obwohl ich natürlich aus innerlicher Begeisterung mein Möglichstes tun werde, weil ich es für wertvoll, bereichernd und faszinierend halte). Der Ärger über Jesus-Ignoranten kann keinesfalls meine Freude an Jesus beeinträchtigen. Ich brauche nicht das Gefühl zu haben, einen Schatz zu verkünden, für ihn zu werben, der dann uninteressant und unbeachtet bleibt. Der Weg dieser Menschen mit Gott läuft an mir vorbei. Ich erfahre in Enttäuschung meine Erfolgslosigkeit und meine Grenzen, kann aber Gottes Wegen auch darin vertrauen. – Kann ich das?
Plötzlich verschärft Jesus seine Rede eindringlich. Die Sünde gegen den Heiligen Geist, d.h. das erkannte Gute nicht zu tun, es zu unterlassen oder gegenteilig zu handeln und darin zu verharren: Das ist abgrundtief böse. Es bedeutet eine Ablehnung all dessen, was der Heilige Geist gibt: sich nicht trösten, nicht mahnen, nicht erinnern, nicht lehren, nicht beistehen zu lassen oder selber nicht beistehen, nicht erkennen, nicht unterscheiden und nicht in der Wahrheit sein zu wollen. Der Heilige Geist wird aus dem Leben, mehr oder weniger bewusst – ausgeschlossen.
Sicherlich wird kein Gläubiger dies wollen und die Dramatik dieses Textes für sich nicht sogleich sehen. Aber er beschreibt eine Möglichkeit, ja eine Wirklichkeit, vor der man nicht die Augen verschließen darf.
Eine christliche Konfliktkultur mahnt zur Gelassenheit gegenüber solchen, die etwas gegen Jesus sagen, gleichzeitig aber zu höchster Aufmerksamkeit, Sorge und Bestürzung über jene, die de facto nichts Gutes im Sinn haben. Die Begegnung mit solchen macht fassungslos.
Weiters spricht diese Stelle der Heiligen Schrift die Dramatik möglicher eigener Fixiertheit auf etwas Falsches an. Denn die Möglichkeit, im – unbewussten – Widerspruch zum Heiligen Geist zu leben, besteht auch für Gläubige. Eine christliche Konfliktkultur muss deshalb mit dem eigenen Versagen rechnen und dementsprechend das Verhalten immer wieder unter dem Anspruch des Heiligen Geistes prüfen.
Konfliktkultur: Hass - Vom Hass der Welt gegen die Jünger
„Denkt an das Wort, das ich euch gesagt habe: Der Sklave ist nicht größer als sein Herr. Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen; wenn sie an meinem Wort festgehalten haben, werden sie auch an eurem Wort festhalten.“ (Joh 15,20)
Evangelium:
Der Hass der Welt gegen die Jünger (Joh 15,18 - 16,4)
Jesus stellt den Jüngern eine der dunkelsten „Schattenseiten der Welt“ eindringlich und schonungslos vor Augen. Er beschreibt eine Welt der Wölfe, die jeden zerreißt, der nicht mit-heult. Im Auftrag Gottes soll jedoch eine Veränderung durch Liebe gebracht werden, die an einem Ort der falschen Werte so herausfordernd sein kann, dass eine Gesellschaft darauf mit Ablehnung, Hass und Verfolgung reagiert. Das Leben Jesu selbst ist ein solches Beispiel. Die Geschichte der Märtyrer, auch in unserer Gegenwart, legt davon Zeugnis ab.
Nur auf diesem Hintergrund lässt sich die Härte der Worte Jesu in einem ziemlich harmoniegewohnten Mitteleuropa verstehen. Der Evangelist Johannes zeichnet die Gegensätze scharf zwischen Licht und Dunkel, Leben und Tod, Liebe und Hass, besonders in den Abschiedsreden (Joh 13-17). Zwischentöne, Übergänge und Nuancen werden ausgeblendet und legen dem Leser eine Schwarz-Weiß-Sicht nahe, die seiner Lebenserfahrung mit der Welt von heute nicht entspricht. Das bloße Wissen um die historischen und gesellschaftlichen Bezüge des Textes in der johanneischen Gemeinde ist zwar hilfreich, kann aber nur selten ins Herz dringen. So gilt es, die Radikalität der Sprache des Textes nur in dem Maß zu übernehmen, wie man sie nachvollziehen kann: Was will Gott hier sagen? Was bedeutet das für uns?
Christen, die einander nach dem Beispiel Jesu lieben, wie es unmittelbar vor der hier betrachteten Textstelle (Joh 15,17) heißt, sind eins mit ihm. Jede Erfahrung, die Jesus gemacht hat, kann sie ebenfalls treffen: die bewährte Treue und das bedingungslose Zusammenstehen in der Gemeinschaft der mit Christus Liebenden, aber auch der Hass und die Blindheit jener, die nicht lieben. Der spezifische Blick für eine christliche Konfliktkultur sieht sich hier einer Auseinandersetzung gegenüber, in der es ein kompromissloses Gegeneinander gibt. Die Situation kann einiges erklären, aber nichts entschuldigen. Es zählt, was unter dem Strich herauskommt, unabhängig von möglichen, subjektiven, mildernden Umständen.
Eine christliche Konfliktkultur muss diese Gegensätze durchhalten. Auch wenn man einen „Gegner“ aus einer ganz bestimmten Sicht vielleicht sogar verstehen kann: In seinem Handeln bleibt er ein „Gegner“. Und hoffentlich wird man in solchen Auseinandersetzungen nicht selbst zu einem „Gegner der Liebe“.
Im Sinn einer christlichen Konfliktkultur ist im Ernstfall mit einem „Konflikt mit der Welt“ zu rechnen. Und die „Welt“ geht durch jeden Menschen hindurch, der sich an ihren Kriterien orientiert, also durch jeden von uns, immer wieder. Deshalb kann ein „Konflikt mit der Welt“ auch an kirchlichen Orten, ja in mir selbst, begegnen. Jesus verheißt, dass der einzelne Gläubige diese Situation durchstehen kann. Was im psychisch und physisch wiederfahren wird, bleibt zweitrangig hinter der Gewissheit, im Heiligen Geist an der Liebe Christi festhalten und davon Zeugnis geben zu können. Wo dies vor Menschen ohnmächtig bleibt, zählt es vor Gott. Was immer bewirkt werden kann, wird der Heilige Geist durch seine Zeugen tun, die sich seiner Kraft anvertrauen und nicht nur mit den eigenen Fähigkeiten rechnen sollen.
Konfliktkultur: Ablehnung - Die Ablehnung Jesu in seiner Heimat
„Amen, das sage ich euch: Kein Prophet wird in seiner Heimat anerkannt.“ (Lk 4,24)
Evangelium:
Jesu Ablehnung in Nazaret (Mt 13,54-58, Mk 6,1-6, Lk 4,16-30)
Jesus hat die ersten Erfolge seiner Tätigkeit erlebt. Die Menschen sind zu ihm geströmt, um ihn sprechen zu hören und um von ihm geheilt zu werden. Jesus weiß, dass er ihnen all das geben kann, was sie für ihr Leben brauchen, vor allem den Zuspruch Gottes. Das hat sich mittlerweile in der Umgebung herumgesprochen. So kann man annehmen, dass Jesus überall den gleichen Erwartungen begegnen wird und dass sich Menschen um ihn versammeln werden, die das Wort Gottes aus seinem Mund hören wollen.
Natürlich gab es schon Auseinandersetzungen, aber gerade in seiner Heimatstadt Nazaret müsste man eigentlich „stolz“ auf ihn und seine Bekanntheit sein.
Das Gegenteil ist der Fall. Möglicherweise spielen Vorurteile eine Rolle (Mk 6,3 „Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns…“) oder Neid. Vielleicht ist die Reaktion der Leute von Nazaret sogar gruppendynamisch erklärbar. Immerhin sticht Jesus aus einer Masse hervor, die ihn gut kennt. „Wie kommt der dazu, mir etwas sagen zu wollen? Fühlt er sich besser als ich? Was maßt er sich denn da an? Glaubt er, er hat die Weisheit mit dem Löffel gegessen? – Wenn er sich uns nicht anpasst, gehört er nicht zu uns.“ Jesu Selbstdarstellung wird als Angeberei, als Überheblichkeit, ja als Lästerung aufgefasst. Das mag eine grundsätzliche Haltung der Ablehnung erklären.
Aber es kommen mehrere Dinge hinzu. Der Inhalt von Jesu Predigt interessiert hier niemanden. Wie gebannt hat man auf seine Person geachtet, aber überhaupt nicht versucht, etwas von der Botschaft Gottes – eben durch diese Person – zu verstehen. Dadurch bleibt nur der Eindruck einer Provokation, die man nicht ertragen möchte. Die Stimmung scheint emotional so aufgeladen, dass kein vernünftiges Wort, geschweige denn ein Nachdenken möglich ist. Nach Lukas wird diese Situation lebensbedrohend, man will Jesus töten (Lk 4,28).
So kann Jesus in seiner Heimatstadt nur wenig tun (Mk 6,5). Er muss weggehen. Er ist erstmals mit dem Konflikt einer totalen Ablehnung durch eine Menge von Leuten begegnet – ausgerechnet in seiner Heimat.
Damit haben auch die Jünger zu rechnen, wenn sie im Auftrag Jesu ausgesandt werden, um die Frohe Botschaft zu verkünden und Gutes zu tun (Mt 10,14, par. Mk 8,11, par. Lk 9,5, par. Lk 10,10). Wenn es unmöglich ist, etwas zu tun, das niemand hören will, bleibt nur das Weggehen. Was mit diesen Menschen an diesem Ort weiter geschieht, ist außerhalb des Einflussbereiches der Jünger. Es ist Sache Gottes: Der könnte richten (Mt 10,15, par. Lk 10,13). Aber vielleicht, und das ergibt sich nicht unmittelbar aus der Heiligen Schrift, empfängt einmal ein anderer zu einer anderen Zeit den Ruf Gottes, an diesen Ort bzw. zu diesen Menschen zu gehen und vielleicht ist dann eine Umkehr, ein Hören für diese Menschen möglich. Es ist Sache Gottes, sich etwas Passendes einfallen zu lassen.
Eine christliche Konfliktkultur muss die Ohnmacht angesichts von Ablehnung nüchtern zur Kenntnis nehmen. Man mag sich damit trösten, dass alles „zu seiner Zeit von Wert“ (Sir 39,21), aber eben die Zeit dafür noch nicht gekommen ist. Geduld, Gelassenheit, Gottvertrauen mögen dem Jünger helfen, über die Erfahrungen von Ablehnung hinwegzukommen.
Wenn jemand an einem Ort nicht anerkennt wird, soll er woanders hingehen, wo er seinen Auftrag erfüllen kann und wo er willkommen ist. Es geht um die Verkündigung des Wortes Gottes, die Sorge um die Menschen, besonders um jene, die irgendwie am Rand stehen – und das alles in einem bescheidenen Lebensstil. Wo das nicht anerkannt wird, kann nichts oder nur wenig getan werden. Keinesfalls ist die Rede davon, den empfangenen Auftrag zu ändern und etwas zu tun, das an diesem Ort mehr Anerkennung erfahren könnte, um quasi auf diesem Weg später zum eigentlichen Auftrag zurückkehren zu können. Die Erfahrung von Ablehnung kann nicht „kompensiert“ werden. Es ist allerdings ermutigend, dass gerade das Tun des Guten und das Engagement für Frieden in einer „Sprache der Bescheidenheit“ (Johann Weber) fast überall verstanden wird, sogar in Ländern, wo Christen diskriminiert werden. Hier kann der Inhalt der Botschaft Gottes bezeugt werden, wenngleich die offene Rede von Gott – in einer solchen Situation – nicht (leicht) möglich ist.
Konfliktkultur: Zorn - "wer seinen Bruder zürnt..."
„Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein.“ (Mt 5,22a)
Evangelium:
Wer seinem Bruder zürnt… (Mt 5,21-22)
Jesus radikalisiert die negativen Handlungen, die jemand gegenüber seinem Nächsten haben kann. Zorn liegt damit auf der gleichen Linie wie Mord. Denn beides entspringt einer inneren Einstellung, die den anderen „weg-haben“ will, der zu einem – subjektiv empfundenen – Ärgernis geworden ist. Für den Evangelisten ist eine Zorn-Analyse uninteressant. Jesus fragt nicht nach dem Grund des Zornes. Es ist gleichgültig, ob ein solches vorhanden ist oder nicht, ob der Zorn nicht vielleicht sogar nachvollziehbar, verständlich oder berechtigt erscheint. Es geht um mehr als um eine emotionsgeladene Auseinandersetzung. Denn dem anderen wird im Zorn seine Würde, seine Gott-Ebenbildlichkeit abgesprochen.
„Gottloser Narr“ (Mt 5,22) ist mehr als ein Schimpfwort. Dahinter steckt die Anmaßung, Richter über die Gottesbeziehung des anderen zu sein. Und es ist ein Urteil, das die Zurechnungsfähigkeit des anderen abspricht. Der Vergleich von Zorn und Mord ist freilich stark. Sicherlich sind das Dinge von unterschiedlichem Gewicht. Das Zivil- bzw. Strafrecht kennt kein Delikt „Zorn“, während bei „Mord“ die höchsten Strafen verhängt werden. Erst durch Taten, die aus dem Zorn erwachsen, kann jemand straffällig werden.
Das Evangelium blickt ins Herz des Menschen, wo Gutes und Böses ihre Ursachen haben (vgl. Mt 15,19). Was sich auf der Oberfläche unterschiedlich gewichtig zeigt, hat gemeinsame Wurzeln der Feindseligkeit, die Jesus aufdeckt und zuspitzt. Innerlich geht es jedes Mal darum, den anderen radikal wegzuwünschen. Ob und welche Handlungen gesetzt werden, mit denen jemand aus dem Weg geräumt werden soll, ist im Sinn der vorliegenden Stelle des Evangeliums zweitrangig (– in der Praxis jedoch nicht!). Schließlich bildet der Zorn, der in der klassischen Lehre unter die „Todessünden“ gereiht wird, einen beständigen Nährboden für Gedanken, Worte und Taten, die sich gegen den Nächsten und gegen Gott richten.
Realistischerweise muss man im Auge behalten, dass es Konflikte immer geben wird. Deshalb sollten – auch emotional heftige – Auseinandersetzungen grundsätzlich nicht dramatisiert werden. Aber alle Beteiligten sollten darauf achten, dass das Herz nicht davon beherrscht wird. Ein Konflikt darf bei aller Härte nicht zum „Zorn“ führen, durch den der „Gegner“ weggewünscht, beschimpft und in seiner Würde als Ebenbild Gottes beschnitten wird. Eine Ablehnung des anderen in seinem Mensch-Sein ist immer ein Unrecht in sich, egal in welcher Art und Weise dies geschieht oder wie sehr dies „verständlich“ erscheint. Dann aber geht es um „Umkehr“.
Konfliktkultur: Missgunst - Der Ärger des älteren Bruders
„Aber jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern; denn dein Bruder war tot und lebt weiter; er war verloren und ist wiedergefunden worden.“ (Lk 15,32)
Evangelium:
Der Ärger des älteren Bruder (Lk 15,25-32)
Der Blick auf diese Erzählung im Sinn einer christlichen Konfliktkultur stellt eine ungewohnte Perspektive dar. Hier geht es im zweiten Teil des Gleichnisses vom „verlorenen Sohn“ bzw. vom „barmherzigen Vater“ (Lk 15,11-25) um die Reaktion des älteren Bruders. Er ist neidisch und eifersüchtig auf den Jüngeren, weil diesem eine über jedes Maß hinausgehende Güte des Vaters zuteil wird.
Es wäre leicht, bei dieser Beobachtung stehenzubleiben und allgemein zu Großherzigkeit und zur Mitfreude über den Heimkehrenden zu mahnen. Aber es steckt mehr in diesem Text.
Das Problem für den älteren Sohn ist die scheinbar ungerechtfertigte Bevorzugung des anderen. Als einer, der immer brav und fleißig seine Pflicht erfüllt, muss er sich ja als der Dumme vorkommen, der arbeitet, während andere prassen und feiern. Er hätte gern einmal ein Fest veranstaltet, aber dieser Wunsch wurde nie erfüllt. Hat er den Vater jemals nach dem erwähnten Ziegenbock gefragt? Oder hat er erwartet, der Vater würde von sich aus einen solchen Vorschlag machen? Vielleicht hat der ältere Bruder seinen Vater vor allem als korrekt kennengelernt. Die Großzügigkeit gegenüber dem Jüngeren verwundert ihn, wobei er vielleicht eine neue Seite am Vater entdeckt, die er bisher nicht gesehen hatte.
Der Vater zeigt Freude, Güte und Großzügigkeit, die den Älteren selbstverständlich mit-einschließt. „Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist auch dein“ (Lk 15,31). Das hat der ältere Bruder wahrscheinlich so noch nie gehört. Nun mag ihm bewusst werden, wie „privilegiert“ er eigentlich lebt, wenn er die ganze Zeit in der Nähe seines Vaters sein kann. Das ist eine neue Sicht auf etwas Wunderbares, das als Routine bzw. als Selbstverständlichkeit gar nicht bemerkt wurde.
Ein neuer Blick von Christen auf alles, was sie von Gott empfangen haben, würde manche von einer Verärgerung über „andere“, scheinbar vom Schicksal Bevorzugte, wieder zurückführen zu einer Haltung der Dankbarkeit, die viel „erlösender“ ist, als wenn alle stets korrekt behandelt werden würden.
Die besänftigenden Worte des Vaters richten sich darauf, dem älteren Bruder die Wirklichkeit zu erklären, in der er lebt. Er hat dies vorher nicht richtig wahrgenommen, sondern sich mit seinem alltäglichen Tun und den damit verbundenen Freuden und Problemen begnügt. Er hat sich nie losgelöst, hat nie etwas Außergewöhnliches erlebt, hat nie Sehnsucht nach einer verlorenen Heimat haben müssen, weil er immer daheim war. In diesem Lebenskreis fällt es schwer zu verstehen, was jenseits davon liegt. Da kann man ihm keinen Vorwurf machen.
Der Vater hinterfragt die Antipathie des Älteren nicht. Er stellt ihn nicht zur Rede, sondern verweist auf die ihn umgebende Geborgenheit. Ihm gehört das Erbe, dessen anderer Teil vom Jüngeren verbraucht wurde (und der daher höchstens mit einem Pflichtanteil oder einem Auskommen rechnen kann.) Dem Älteren mag zum ersten Mal klar werden, für welchen Reichtum und welche Verantwortung er bestimmt ist. Kann er da gegenüber seinem chaotischen Bruder kleinlich sein?
Die Antwort des älteren Bruder auf die Worte des Vaters wird nicht berichtet. Er könnte sie dankbar annehmen und sich ganz im Sinn des Vaters freuen. Und er mag eine vorher nicht gekannte Nähe zum Vater und durch ihn auch zum Bruder spüren.
Der ältere Bruder könnte aber auch in seiner mürrischen, auf äußerliche Gerechtigkeit bestehenden Haltung verharren. Dann bleibt eine Distanz zum Vater, dessen großzügige Seite er gar nicht wahrhaben will. Irgendwie würde er ein subjektives Vaterbild fixieren, um bei seiner starren Haltung gegenüber den Mitmenschen zu bleiben.
Oder er könnte ein bisschen Zeit brauchen, um die neue unerwartete Situation zu verdauen. Dann wird er mit einem inneren Ringen konfrontiert, aus dem heraus er zu einer veränderten Sicht gelangen kann. Die überwältigende Zusage, alles zu besitzen, was dem Vater gehört, muss in seinen ungeahnten Konsequenzen noch durchdacht werden.
Für eine christliche Konfliktkultur sind die im Gleichnis dargestellten Personen gut nachvollziehbar. Aus ihrem jeweiligen Hintergrund heraus handeln alle auf ihre Art verständlich. Nur die Größe der Barmherzigkeit des Vaters übersteigt gewöhnliche Vorstellungen.
Es ist mit der – konträren – Verschiedenheit der Brüder zu rechnen, wie es sie in der Kirche gibt. Der eine will vielleicht mündig sein, macht jeden erdenklichen Unsinn (objektiv oder bloß in den Augen vom anderen), aber er kehrt reumütig um, weil die Beziehung zum guten Vater stärker als jede andere Erfahrung ist. Der andere lebt in einem geschlossenen Milieu, das schwer aufzubrechen ist, in dem alles außerhalb skeptisch betrachtet wird. Es fällt fast schwerer, diesem Älteren mit Sympathie zu begegnen. Man meint, er sollte erst die Begrenztheit seines Horizontes erkennen und öffnen. Danach wird er vielleicht eine persönliche Größe entfalten können, mit der er sich nicht nur zum verlässlichen, sondern auch zum gütigen Erbe ganz im Sinn des Vaters entwickeln wird. (Das ist für alle „brave Christen“ gesagt.)
Wem ähneln wir in diesem Gleichnis? Am meisten, so denke ich, doch dem älteren Bruder, am wenigsten dem jüngeren, da unsere Lebensgeschichten selten von solchen Extremen gezeichnet sind. Das Ziel ist, den Vater in seiner Liebe zu erfahren und erfahrbar zu machen. Wir müssen seine Zuwendung, sein Verzeihen, seine Güte zulassen.
Im Sinn einer christlichen Konfliktkultur empfiehlt es sich, – etwa für Freunde des Bibliodramas – abwechselnd in alle drei Rollen zu schlüpfen, um die jeweiligen Haltungen zu durchschauen, um Unverständnis abzubauen und um hilfreiche Verhaltensweisen zu bestärken.