Konfliktkultur: Selbstbeschneidung - "Wenn dich dein Auge zum Bösen verführt..."
„Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verlorengeht, als dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird.“ (Mt 5,29b)
Evangelium:
Wenn dich dein Auge zum Bösen verführt, gib es weg ( Mt 5,29-30, Mt 18,8-9; Mk 9,43-47)
Was kann dieser eindringliche, anschauliche und erschreckende Text für den Alltag bedeuten? Es ist schwierig, sich von seiner Phantasie zu befreien, die sich gegen die Vorstellung einer Verstümmelung des eigenen Körpers wehrt. Denn ein wortwörtliches Verstehen dieser Textstelle muss ausgeschlossen werden. Somit müssen Abwehrhaltungen gegen die sich aufdrängenden bildlichen Vorstellungen demaskiert werden, bevor man zu einem tieferen Verständnis des Textes vordringen kann.
Eine erste Abwehr besteht darin, die Worte nicht wirklich an sich herankommen zu lassen: „So schlimm ist es bei mir auf keinen Fall. Und wenn ich einmal sündige, d.h. Böses tue, dann wollte ich es ja eigentlich nicht. Ich habe in einer Situation der Schwäche einen Fehler gemacht. Aber ich habe bereut – und die Sache ist sicher erledigt.“ Zweifellos finden diese Gedanken im Evangelium Unterstützung, z.B. im Gleichnis vom Unkraut und vom Weizen (Mt 13,29-30). Aber ist es so einfach?
Eine weitere Abwehr liegt im Kontext der betrachteten Bibelstelle: Es geht um eine Situation der Entscheidung zwischen Gut und Böse und deren Konsequenzen vor dem Endgericht. Es geht um Entweder – Oder, um Schwarz oder Weiß. Für einen Christen, der diesen Text betrachtet, ist die Entscheidung jedoch längst zugunsten des Guten gefallen und so kann er den Eindruck haben, dass ihn die dargestellte Entscheidungssituation nicht betrifft. Diese liegt ja hinter ihm. Er braucht die eindringliche Erinnerung an das Tun des Guten und das Vermeiden des Bösen nicht mehr. Was der Text in diesem Zusammenhang aussagt, ist eine Selbstverständlichkeit.
Eine dritte Abwehr einer näheren Beschäftigung mit dem Text liegt in einem bloß bildhaften Verständnis, wobei die Dramatik des Bildes als stilistisches Element gedeutet und daher rein spiritualistisch gesehen werden kann.
Wie auch immer: Die Grundaussage des Textes ist klar: Das Böse soll im eigenen Handeln keinen Platz haben. Es wäre sogar besser, „Verstümmelungen“ zu erlangen, als Unrecht zu tun und sich Gott entgegenzustellen.
Irritierend bleibt die scheinbare Ignoranz des Textes gegenüber der Ganzheitlichkeit der menschlichen Person. Gott kann doch nur wollen, dass die ganze Person „heil“ wird. Es kann nur ein Missverständnis sein, wenn in einer Form von Fanatismus alles „Unreine“ beseitigt werden soll, denn dann gäbe es keinen unversehrten Menschen mehr!
Dennoch ist der Text in diesem Verstehensdilemma ernst zu nehmen.
Was kann mit „böse“ gemeint sein? Ganz eindeutig sind z.B.: Lüge, Hinterhältigkeit, Lieblosigkeit, Rücksichtslosigkeit u.ä. gemeint. Aber auch, Dinge über Menschen zu stellen, gehört dazu. Teilweise verschleiern oder legitimieren gesellschaftliche Verhältnisse sogar Böses. Wieviel Taktik, Doppelbödigkeit und Ellbogentechnik kann man auf den Karriereleitern in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und vielleicht auch kirchlichen Einrichtungen begegnen? Und wie oft wird Rücksichtnahme, Geduld, Dialogbereitschaft und Großzügigkeit ausgenützt, wenn es die eigenen Ziele fördert?
Damit hängt die Frage direkt zusammen: Was ist es heute, das scheinbar unmittelbar zu einer Persönlichkeit gehört, aber doch zum Bösen verführt? Das kann z.B. das Streben nach einer gesellschaftlichen Position, nach Kariere, eine ich-zentrierte „Selbstentfaltung“ usw. sein. Wenn ein solcher Lebensweg Lieblosigkeit, Rücksichtslosigkeit, Unehrlichkeit usw. in Kauf nehmen muss, wäre es besser, ihn zu verlassen. Im übertragenen Sinn könnte es so aussehen, als wäre man dann eine „unvollständige Persönlichkeit“, weil man seine „Chancen nicht genutzt hat“. Und tatsächlich kann man in den Augen mancher Menschen als „verstümmelt“ gelten. („Der hat auf einen schönen Posten verzichtet“ u.ä.m.)
Wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse definieren, was zu einer Person dazugehören soll, werden manchmal andere Maßstäbe angelegt, als es das Evangelium tut. Die Frohe Botschaft legt nahe, nötigenfalls auf Dinge zu verzichten, von denen man meint, sie würden zur eigenen Persönlichkeit, zum persönlichen Lebensstil gehören.
Ein etwas unschön klingender Ausdruck dafür ist „Selbstbeschneidung“, was einen Verzicht auf etwas Wertvolles – zugunsten eines noch Wertvolleren – bedeutet. Die wahre Integrität des Menschen kann gegebenenfalls paradoxerweise nur durch den Verlust eines (vermeintlich) dazugehörigen Teiles der eigenen Person gewahrt werden. Das kann der Verzicht auf die Durchsetzung von Zielen sein, mit denen man sich identifiziert; die Aufgabe eines Berufes oder eines Milieus, in denen durch Strukturen, Personen oder andere Umstände das Gute unterdrückt wird. Sogar die Trennung von Menschen, die nicht vom Tun des Bösen wegkommen und dadurch das eigene Gut-Sein bedrohen, könnte gemeint sein.
In Sinn einer christlichen Konfliktkultur muss man es in dieser Gesellschaft in Kauf nehmen, im Zweifelsfall auf einiges zu verzichten. Ein gesellschaftlich legitimes Mittun, ein Verweigern radikaler Konsequenzen der geforderten Umkehr zum Evangelium sind zwar „menschlich verständlich“, letztlich aber unchristlich.