Konfliktkultur: Pflicht zur Vergebung - Wie oft soll man vergeben?
„Und wenn er sich siebenmal am Tag gegen dich versündigt und siebenmal wieder zu dir kommt und sagt: Ich will mich ändern!, so sollst du ihm vergeben.“ (Lk 17,4)
Evangelium:
Die Pflicht zur Vergebung (Mt 18,21-22, Lk 17,3-4)
Hier kann eine Betrachtung im Sinn christlicher Konfliktkultur kurz sein: Der Gläubige soll bereitwillig, grenzenlos und immer vergeben.
Bei Matthäus ist dazu nicht einmal ein Bekenntnis, Reue oder ein Vorsatz zur Besserung notwendig. Bei Lukas soll man die rhetorische Floskel eines anderen, er werde sich bessern, unbeirrbar wohlwollend zur Kenntnis nehmen, obwohl dies in seiner Oberflächlichkeit noch einmal mehr auf die Nerven gehen kann.
Interessant ist die heute ungebräuchliche Sprachform: „Jemand hat sich gegen mich versündigt.“ Was heißt das? Was kann konkret gemeint sein? Schon in der Zeit der Evangelisten ist dieser Ausdruck eine Verallgemeinerung, die verschiedene Erfahrungen zusammenfasst und ein Stück weit abstrahiert. Vieles kann darin beinhaltet sein.
Das setzt ein Nachdenken über das Geschehene voraus: Ich mache mir die Situation mit all ihren Umständen bewusst und denke das Verhalten des anderen durch; ich komme zu einem enttäuschenden Ergebnis: Er hat etwas Schlechtes gegen mich getan.
Nach Matthäus muss ihm dies nicht einmal auffallen. Es gibt tatsächlich ein Schuldig-Werden an anderen, das nicht beabsichtigt ist, das gar nicht bemerkt wird. Eine kleine Rücksichtslosigkeit kann in Unaufmerksamkeit geschehen, aber doch verletzen. Da dies sicher ein Tun gegen den Willen Gottes ist, kommt so einer objektiv gesehenen „Kleinigkeit“ die Beschreibung „Sünde“ zu. Eine Zurechtweisung kann wegen dem geringen Gewicht der Handlung sogar ohne Vorwurf erfolgen. Man stellt nur klar (u.U. mit Humor) und hilft dem anderen, das nächste Mal aufmerksamer, rücksichtsvoller zu sein. Geht er darauf ein – gut, dann hilft das weiter. Kann er seinen Fehler nicht einsehen bzw. berührt ihn das nicht, so mögen seine leeren Vorsätze als äußeres Zeichen guten Willens gelten, das innerlich nicht mitvollzogen wird. Immerhin zeigt es, dass grundsätzlich eine Verbundenheit besteht und aufrecht bleiben soll, obwohl man über die Nutzlosigkeit von Gesprächen irritiert sein wird. Auf einem gemeinsamen Fundament des Glaubens bzw. der Überzeugung ist das trotzdem verkraftbar – und verzeihbar.
Eine christliche Konfliktkultur braucht ab und zu Abstand von einer konkreten Situation. Wenn man in diese verstrickt bleibt und nur unmittelbar und direkt reagiert, übersieht man Lösungen, die auf anderen Ebenen liegen. Distanz hilft, ebenso die Fähigkeit, das erlebte Tun sprachlich einordnen zu können: z.B. als „Sünde“, wobei es um keine rhetorische Hochstilisierung oder Spiritualisierung geht. Mit der Formel „jemand hat gegen mich gesündigt“ wird die erfahrene (subjektive) Wirklichkeit vor Gott hingetragen und betrachtet. Gott wird in den Konflikt eingeschaltet und kann seine Antwort durch das Beispiel und die Worte Jesu vermitteln.
Das ergibt eine Chance für eine christliche Konfliktkultur: In der Deutung konfliktträchtiger Erfahrungen vor Gott wird mir die eigene oder fremde Schuld klarer. Entsprechend meinen Beobachtungen kann ich dann eine Konfliktlösung in mir, im Gespräch mit anderen, im eigenen Handeln beginnen, wie es eben angemessen ist.
Bei Erkenntnis eigener Schuld schlüpfe ich in dieser Bibelstelle in die Rolle des „Bruders, der sich versündigt hat“ und dem Vergebung und neue Annahme verheißen ist.
Wurde ein anderer an mir schuldig, so mag mir zum großzügigen Verzeihen das Beispiel Jesu auch an anderen Stellen vor Augen stehen, wo es um größere Dinge geht, als um solche, wie ich sie erfahren habe (z.B. Vergebung Jesu am Kreuz, Lk 23,34).
In einer solchen Haltung können wir den gemeinsamen Weg weitergehen. Die damit zu überwindende „Sünde“ wird uns trotz ihrer Belastung nicht auseinanderdividieren.