Konfliktkultur: Vergebung - "Wie ihr vergebt, so wird auch euch vergeben werden..."
„Und wenn ihr beten wollt und ihr habt einem anderen etwas vorzuwerfen, dann vergebt ihm, damit auch euer Vater im Himmel euch eure Verfehlungen vergibt. (Mk 11,25)
Evangelium:
Vor dem Beten vergeben, damit vergeben wird (Mt 6,14-15, Mk 11,25, Lk 11,4)
Erst Versöhnung, dann Opfer (Mt 5,23-24)
Die Trennung vom Nächsten zieht eine Trennlinie gegenüber Gott auf. Zwar ist es möglich, in einer Haltung der Vorbehalte, sogar des Unversöhntseins, vor Gott betend hinzutreten, empfohlen wird das jedoch nicht. Ein solches Gebet ist beeinträchtigt. Wo die Offenheit gegenüber dem Nächsten fehlt, fehlt sie gleichzeitig gegenüber Gott, der ja im Nächsten begegnet (vgl. Lk 18,9-14 – das Beispiel vom Pharisäer und vom Zöllner).
Die Evangelisten beleuchten zwei miteinander verwandte Aspekte. Für Markus ist der Ort und der Zeitpunt der Vergebung sofort gegeben, wenn man sich seines Verschließens vor dem anderen bewusst wird. Jesus stellt nicht in Frage, dass Vorwürfe gegenüber anderen berechtigt sein könnten. Er erwartet einfach eine Großherzigkeit, die über das Maß, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, weit hinausgeht, weil ja auch Gottes Großherzigkeit gegenüber mir viel größer ist, als sie „angemessen“ wäre.
Verbunden mit der Vergebung gegenüber anderen ist das eigene Eingeständnis von Vergebungsbedürftigkeit. Ohne dies bleibt ersteres oberflächlich oder rhetorisch. Im „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ wird dieser Zusammenhang deutlich (Mt 6,12, Lk 11,4). Wer einen der zusammengehörigen Teile der Vergebung nicht wahrnimmt, erkennt nicht, dass seine Beziehung zu Gott – möglicherweise – getrübt ist.
Bei Matthäus wird die Empfehlung zur Versöhnung verschärft. Hier erwartet Jesus Taten, d.h. Schritte auf den Nächsten zu, mit dem es Streit gibt. Und die Schuldfrage wird umgedreht: Nicht ich habe dem anderen etwas vorzuwerfen, sondern der andere hat etwas gegen mich. Und es bleibt uninteressant, ob das berechtigt oder unberechtigt oder einfach ein Missverständnis ist. Eine beeinträchtigte Beziehung muss gereinigt werden. Es liegt immer an mir, den ersten Schritt zu gehen. Gleichzeitig wird dies von jedem erwartet, der dieses Wort der Bibel ernst nimmt, sodass im Idealfall jeder Christ stets vorbehaltlos zur Versöhnung, zum ersten Schritt, bereit ist.
Praktische Schwierigkeiten mögen sich aus der Situation ergeben. Es ist nicht immer möglich, sich vor dem Weg zum Altar zu versöhnen, da der andere z.B. nicht erreichbar ist oder er sich nicht ansprechen lässt, weil seine Vorbehalte gegenüber mir zu groß sind. Es kann sogar sein, dass ein Bemühen um Versöhnung fruchtlos ist. Den Versuch verlangt Jesus auf jeden Fall! Dann bleibt nur ein anderer Weg der Versöhnung vor Gott: im Gebet, im Sakrament.
Das Opfer, das ich zum Altar bringe, kann ich selbst sein in der Bereitschaft, mich von Gott verwandeln zu lassen. Dies geschieht in der Feier des Gottesdienstes. Meine Offenheit ist mit-entscheidend für die Annahme der Gnade, d.h. für meine persönliche Umkehr und Verwandlung auf Gott hin. Wenn ich daher nur halb vor ihn trete, wenn ich mich nur teilweise Gott übergeben will, so bleibt – bildlich gesprochen – ein Teil von mir ohne Beziehung zu ihm. Ein Stück meiner Persönlichkeit tritt dann nicht in Kontakt mit Gott, was allerdings meine ganze Person, mein ganzes Mensch-Sein, meine ganze Gottesbeziehung beeinträchtigt. Es gibt nur einen Weg, dies zu vermeiden: sich ganz auf Gott einzulassen.
Sollte dies durch einen aktuellen Konflikt verhindert werden, muss die dadurch entstandene Einschränkung meiner Beziehungsfähigkeit zu Gott beseitigt werden. Es ist – sofort – der erste Schritt zu einer anstehenden Versöhnung zu gehen.
Worum es geht, wer im Recht oder im Unrecht ist, bleibt Nebensache. Denn Gott ist gegenüber mir und jedem stets unendlich großzügig. Die eigene praktizierte Großherzigkeit hat eine Chance, „etwas von Gott“ zu zeigen. Dabei spielt es keine Rolle, ob meine Schritte beantwortet und bedankt werden. Wird mein ehrliches Bemühen enttäuscht, kann ich die Sache Gott überlassen, der in seiner Geschichte mit den Menschen noch viel mehr und größere Enttäuschungen einstecken muss. In Sinn einer christlichen Konfliktkultur finden sich hier Kernsätze (bes. Mk 11,25 / Mt 5,23-24), die allerdings allzu leicht in eine oberflächlich-spirituelle Dimension abgeschoben oder ohne praktische Bedeutung ritualisiert werden. Die Einladung, mit dem Evangelium ernst zu machen und damit sofort zu beginnen, ergeht jederzeit von neuem.