Konfliktkultur: Zwischen Macht und Dienst - Die Versuchungen Jesu
„Dort blieb Jesus vierzig Tage lang und wurde vom Satan in Versuchung geführt. Er lebte bei den wilden Tieren, und die Engel dienten ihm.“ (Mk 1,13)
Evangelium:
Die Versuchung Jesu (Mt 4,1-11, Mk 1,12-13, Lk 4,1-13)
Die Evangelien berichten, wie der Geist Gottes auf Jesus während seiner Taufe herabkommt (Mt 3,13-17; Mk 1,9-11; Lk 3,21-22). Danach wird er vom Teufel in Versuchung geführt. Dieser zeitliche Ablauf ist wesentlich. Er bedeutet, dass der empfangene Geist Versuchungen nicht verhindert, jedoch mag er Kraft und Inspiration geben, diese zu durchschauen und ihnen zu widerstehen.
Von einer anderen Seite betrachtet heißt das, dass eine Taufe bzw. der Empfang des Geistes nicht die Bedingung – oder die Garantie – darstellt, dass jemand gegenüber Verführungen immun wird.
Christliches Leben ist ein Leben mit Irritierungen, die vielleicht dann kommen, wenn man meint, davor gefeit zu sein, etwa nach einer „geistlichen Erfahrung“ oder nachdem etwas Größeres gelungen ist. Darauf macht der Zeitpunkt der Versuchung Jesu aufmerksam. Die Raffinesse des Teufels ist auf ihre Art großartig-abstoßend. Er knüpft an menschliche Grundbedürfnisse, an Frömmigkeit sowie an die Bewunderung der Schöpfung und menschlicher Kulturleistungen an. Alles sieht ja ganz gut aus und niemandem würde ein Schaden zugefügt werden. Die Dinge scheinen harmlos zu sein bzw. sie wären leicht zu verharmlosen, wenn irgendwo doch ein Haken entdeckt wird. Es geht nur um ein bisschen mehr Annehmlichkeit, um einen vermeintlichen Ernstfall von Gottvertrauen und um die Verfügungsmöglichkeit über das Schöne in dieser Welt – zu einem Preis, dessen eigentliche Höhe nicht genannt wird. (Was heißt es konkret, den Teufel anzubeten?) Aber wer würde das hinterfragen, der unbedingt von dem Gezeigten fasziniert sein muss?
Im Einzelnen stellt sich diese Bibelstelle unter dem Gesichtspunkt einer christlichen Konfliktkultur so dar:
Nach dem langen Verzicht auf Nahrung bekommt Jesus Hunger. Er hat ein Grundbedürfnis, das gestillt werden muss. Er bewahrt Ruhe. Der Hunger beherrscht ihn nicht, er hat sich unter Kontrolle. Denn wäre sein Begehren nach Essen jetzt stärker als sein Wille bzw. sein Wissen um seine Möglichkeiten, würde er tatsächlich alles Erdenkbare versuchen, um zu Nahrung zu kommen. Vielleicht könnte er wirklich Steine in Brot verwandeln, aber dann würde er sich Dingen widmen, die nicht seiner Sendung entsprechen. Es geht nicht um das Nächstliegende, Vordergründige, sondern um die Botschaft Gottes, von der nichts ablenken darf.
Hier wird im Sinne einer christlichen Konfliktkultur der rechte Gebrauch der eigenen Möglichkeiten angesprochen, auch angesichts persönlicher Grundbedürfnisse (vgl. Mt 6,25-34; Lk 12,22-31: von der falschen und rechten Sorge). Nach dem Beispiel Jesu kommt zuerst das Wort Gottes, danach die Sorge um die Notwendigkeit der kleinen Lebenswelt, was weder einen Nachrang der eigenen Person hinter etwas „Fremdem“, noch einen Widerspruch bedeutet. Denn das Leben mit all seinen großen und kleinen Seiten ist am besten bei Gott aufgehoben, der alles Nötige – und sogar mehr als das – geben wird (vgl. Mt 7,8: Joh 16,24: „bittet und ihr werdet empfangen“).
In der zweiten Versuchung (nach Matthäus) wird Jesus eingeredet, ein verrücktes Tun wäre ungefährlich, weil Gott seine behütende Begleitung auf jeden Fall zugesagt hat. Das ist eine glatte, aber verschleierte Lüge, besser gesagt: eine Halbwahrheit. Denn der Versucher argumentiert geschickt. Er führt Worte der Heiligen Schrift an. (Er kann auch heute suggerieren: wenn du das und das tust, wird dir nichts geschehen, weil… – und dann kommt schon irgendein Argument). Aber ein Probespringen hat nichts mit der Verkündung der Frohen Botschaft zu tun, nichts mit dem Aufbau des Reiches Gottes. Ein solches Zeichen ist unwichtig, „heilsunwichtig“ und überflüssig. Es bietet nur ein medienwirksames Schauspiel für einen Star, für eine Publikumswette oder für die Verkaufszahlen bzw. Quoten eines Mediums.
Die Argumente werden von Jesus durch ein umfassendes, tieferes Wissen von Gott abgewehrt. Er weiß Texte des Vertrauens (der Versucher zitiert einen Psalm) von einer konkret ganz anderen Situation zu unterscheiden. Gott ist vertrauenswürdig, aber er ist kein Partner für Spielchen.
Im Sinn einer christlichen Konfliktkultur sind Aufträge oder Anregungen zu prüfen: Sind sie einseitig? Verdrehen sie mit gekonnten Worten den Willen Gottes? Sind sie suggestiv oder unnötig? Geht es um ein Spektakel oder um ein Zeichen der Liebe?
Die dritte Versuchung ist gewaltig. Wer möchte nicht zumindest ein bisschen herrschen, Durchsetzungsvermögen haben, Macht ausüben, in einer gesicherten und unanfechtbaren Position sein? Doch hier ist Jesu Absage am radikalsten. Das Streben nach Macht um der Macht willen widerspricht seiner Botschaft, die das Dienen bevorzugt (z.B. Mk 10,45; Mt 20,28; Lk 22,26; Mk 10,43 u.a.m.), am deutlichsten. In diese Zurückweisung sind alle Mittel zur Macht inbegriffen. Eine christliche Konfliktkultur steht da vor einer schweren Aufgabe. Deutliche und versteckte, bewusste und unbewusste Machtansprüche sind in der Welt und in der Kirche allgegenwärtig. (Auch ein Dienst kann im Sinn von Machtausübung ausgeführt werden.)
Selten können Machtansprüche so enttarnt werden, wie es Jesus gelingt. Die entscheidende Frage, die sich jeder stellen muss, ist: Was steht in meinem Streben an vorderster Stelle? Welchen Raum nimmt die Liebe ein? Und man kann den Hinweis Jesu, das „Niederwerfen vor Gott“ ruhig wörtlich nehmen. Wieviel Zeit nehme ich mir für die Anbetung Gottes, besonders wenn ich in der Position bin, in der ich tatsächlich Einfluss und Macht habe?
Aber das alles ist keine Garantie, Versuchungen abwehren zu können. Die gibt es nicht. Nicht einmal Jesus blieb dauerhaft davon verschont. Die Evangelien berichten, dass er „eine gewisse Zeit“ Ruhe haben sollte. Eine Überwindung des Bösen „ein für allemal“ ist eine Illusion.
Das Leben fordert ständig Entscheidungen zwischen Gut und Böse, die selten als solche bewusst werden. Die Grundhaltung eines Menschen übernimmt im Alltag die Orientierung für jegliches Handeln. So gilt es, diese immer wieder zu überprüfen und zu pflegen (Gewissenserforschung und Gewissensbildung). Falsche Selbstsicherheit ist niemals angebracht, sondern Wachsamkeit (vgl. z.B. Mt 24,43; Lk 12,39) und Klugheit.