Wieviel Heterogenität verträgt - braucht - liebt die Kirche?
Verletzlichkeit wagen.
Wieviel Heterogenität verträgt – braucht – liebt die Kirche? Ein Impuls aus systematisch-theologischer Sicht
08.01.2016, Prof. Dr. Hildegund Keul, Düsseldorf / Würzburg
Einleitung: Heterogenität als Gretchenfrage in Gesellschaft und Kirche
1. Kirche im Format des Antimodernismus – Homogenisierungsdruck und die Utopie der Unverwundbarkeit
„Einst stellte eine Kirche einen Boden bereit, das heißt ein fest umrissenes Terrain, innerhalb dessen man die soziale und kulturelle Garantie hatte, dass man auf dem Acker der Wahrheit wohnte.“ (Certeau 2009, 245)
=> Die Herodes-Strategie als Sicherungsdiskurs: Andere verwunden, um selbst nicht verwundet zu werden.
2. Auf Erkundung gehen – Heterogenität wagen. Die Inkarnationstheologie des Zweiten Vatikanischen Konzils
„Denn er, der Sohn Gottes, hat sich in seiner Fleischwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt.“ (GS 22) Gott hat eine Schwäche für die Menschen, so heterogen sie sind. Daher etabliert das Konzil einen neuen Umgang mit Heterogenität, indem es für Öffnung und Inklusion „im Licht des Evangeliums“ (GS 4) einsteht. Dies bedeutet aber auch: Im Zeichen heterogener Gegenwart wird der Glaube aus den Feldern der Gewissheit in Ungewissheit geführt, aus einer Position unhinterfragter Stärke in „Glaubens-Schwachheit“, aus der Utopie der Unverwundbarkeit ins Wagnis der Verletzlichkeit.
„So wird, auf tausenderlei Weisen, […] das Aussagbare unablässig von etwas Unsagbarem verletzt.“ (Certeau 2010, 123)
3. Human leben – der Andersmacht aus Verletzlichkeit trauen
In der Inkarnation stellt sich Gott der Verletzlichkeit menschlichen Lebens. Dieser Spur folgend gilt es, in den Umbrüchen der Gegenwart human zu leben. Dazu braucht es sowohl Selbstschutz als auch das Wagnis der Verletzlichkeit. In der „Öffnung und Verletzung“ kann eine neue Macht entstehen, die als Gnade von Gott kommt (vgl. 2 Kor 12,9). Aus Schwachheit wächst Stärke.
Von der Kirche ist beides zu erwarten: eine Schwäche für den eigenen Glauben und eine Schwäche für die heutigen Menschen mit ihren Stärken und Schwächen, Leidenschaften und Charismen. Indem die Kirche der Andersmacht aus Verletzlichkeit traut, kann sie selbst eine neue Stärke entwickeln und der Gesellschaft einen anderen Umgang mit Heterogenität eröffnen.
Butler, Judith 2005: Gefährdetes Leben. Politische Essays. Suhrkamp
Certeau, Michel de 2009: GlaubensSchwachheit. Stuttgart: Kohlhammer (ReligionsKulturen 2)
Ders. 2010: Mystische Fabel. 16. bis 17. Jahrhundert. Berlin: Suhrkamp
Keul, Hildegund 2015: Verwundbarkeit – eine unerhörte Macht. Christliche Perspektiven im Vulnerabilitätsdiskurs. In: Herder Korrespondenz 12/2015, 647-651
Dies. 2013: Weihnachten – das Wagnis der Verwundbarkeit. Ostfildern: Patmos (2. Aufl. 2014)