Konfliktkultur: Ermahnung - Verantwortung für den Bruder
„Wenn dein Bruder sündigt, dann geh zu ihm und weise ihn unter vier Augen zurecht. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen.“ (Mt 18,15)
Evangelium:
Verantwortung für den Bruder (Mt 18,15-17, Lk 17,3)
Die Zurechtweisung des Bruders / der Schwester scheint festen Spielregeln zu folgen. Der erste Schritt – die Mahnung unter vier Augen – wahrt die Intimsphäre, stellt niemanden bloß und versucht, einen Konflikt im kleinstmöglichen Rahmen zu lösen. Es geht nicht um eine Kleinigkeit. Unter „Sünde“ kann man schon etwas „Handfestes“ verstehen, bei dem das Unrecht offensichtlich ist. Eine skrupulöse Beobachtung von Verfehlungen ist nicht gemeint.
Die Identifizierung einer Handlung als „Sünde“ ist nicht leicht, da die Situation oft nicht eindeutig ist. Dadurch wird das Handeln verschleiert und kann in seiner tatsächlichen Bedeutung unerkannt bleiben. Es braucht also jemanden, von dem man auf das eigene Tun hin angesprochen wird. Und das ist einer, der es gut meint. Heute wird er jedoch zunächst unter dem Verdacht stehen, er wäre anmaßend, kleinlich, verständnislos, unbarmherzig, streng, hart usw. Abgesehen davon: Wer wagt es überhaupt, etwas ernsthaft als „Sünde“ zu bezeichnen? (Die Sprache hat den Begriff „Sünde“ dramatisiert, hochstilisiert, banalisiert, ironisiert, emotionalisiert usw.; dass es sich um eine Trennung von Gott oder eine Trübung der Beziehung zu Gott und den Menschen handelt, wird nicht wahrgenommen.) Wer den Begriff „Sünde“ heute verwendet, wird nicht verstanden.
Es ist keine leichte Sache, jemanden zu ermahnen. Und da es nicht um Lehrmeisterei geht, obwohl das so gedeutet werden kann, muss deutlich werden, dass es um die Sorge für einen geschätzten, ja geliebten Menschen geht. Ein Mahner folgt dem Auftrag Jesu, weil er letztlich einen Menschen nicht verlieren will, dem er verbunden ist. Dahinter steht das Motiv der Liebe.
Wo das Zwiegespräch nicht hilft, müssen dem Ernst der Sache entsprechend weitere Schritte folgen. Eine kleine Gruppe, eine beschränkte Öffentlichkeit wird hinzugezogen, sodass das Problem im kleinen Kreis bleibt. Ein zu schnelles Hinausgehen in die größere Öffentlichkeit würde Positionen verhärten und jemanden in die Enge treiben, der sich dann nur mehr unterwerfen (aber das wäre unwürdig) oder die Gemeinschaft verlassen könnte, was schmerzhaft und unverständlich wäre.
Zwei Personen sollen bei einer Vermittlung helfen. Vielleicht ist das erste Gespräch nur verunglückt. Es geht nicht um eine Art Supervision der Konfliktsituation, sondern um Verdeutlichung einer Sünde und deren Konsequenzen sowie um das Bemühen, Einsicht und Reue zu eröffnen. Nicht zu vergessen: Man will einen Menschen gewinnen – und ihn nicht von oben herab schulmeistern!
Besonders der Stil dieses Gespräches wird wichtig sein. Niemand soll in eine „Rolle“ schlüpfen, weder in die eines „Lehrers“ noch in die eines „Kindes“, das Ausflüchte sucht.
Bei Erfolgslosigkeit dieses zweiten Versuchs ist die Gemeinde zu mobilisieren. In unseren Breiten ist das so nicht durchführbar. Die Situation der neutestamentlichen Gemeinden war anders. Ein Ausschluss aus der Gemeinde damals ist mit einem Kirchenaustritt heute nicht vergleichbar. Auch die Beziehungen der neutestamentlichen Gemeinden zu Heiden oder Zöllnern sowie mit dem gesamten kulturellen Umfeld haben mit der Beziehung heutiger christlicher Gemeinden und Vereinigungen zu nicht-christlichen Gemeinschaften keinen Vergleich.
Ein Grundgedanke soll klar sein: es geht um das Gewinnen eines Menschen, der Hilfe zur Umkehr braucht. Wenn er dies nicht annimmt, kommt es zur Entscheidungssituation: Willst du Christ sein? Was bedeutet dir Christus?
Aber die Grenzen zwischen Christen und Nicht-Christen im Umfeld eines Auswahl-Christentums sind fließend. Auch die Form und das Bewusstsein von Zugehörigkeit ändern sich ständig. Und so stellt sich die Frage: „Christ sein – ja oder nein“ kaum je bewusst.
Für eine christliche Konfliktkultur bleibt vor allem der Mut aus Liebe gefordert, den Weg zum anderen zu gehen, von dem man meint, dass er auf einem Irrweg geht. Es braucht eine Sensibilität für die Erkenntnis von Irrwegen in der Gemeinde. Die Grauzone, in der sich viele Handlungen und Lebensstile bewegen, macht es schwierig, eine „Sünde“ als Sünde zu erkennen und zu beurteilen. Trotzdem ist ein Gespräch in Liebe immer ein guter Weg. Es geschieht ja aus Anteilnahme und Sorge, nicht um einer Belehrung willen.
Nichts ist so eindeutig wie das, was man unterlässt (Tucholsky). In diesem Sinn fordert eine christliche Konfliktkultur zum offenen Wort in geeignetem Rahmen und in angemessenem Stil heraus. Sie muss Empfindlichkeit und Vorverurteilungen vermeiden und braucht den Mut zu Konsequenzen. Wo die Einnahme gegensätzlicher Standpunkte grundsätzlich und in christlichem Sinn unüberbrückbar wird, sollen diese nicht oberflächlich harmonisiert oder verharmlost werden. Das soll mitmenschliche Beziehungen so wenig wie möglich hindern trotz einer gewissen, vielleicht klaren Trennung.