Die Schwierigkeiten mit dieser Bibelstelle haben sich heute verschoben. Kaum ein Christ wird zugeben oder von sich glauben, dass er der „Größte“ sein will. Das Ansehen, das jemand mit einem Amt genießt, weiß der Amtsträger rückgebunden an den Auftrag des Dienens und des Klein-Seins vor Gott. Andererseits gilt das Streben nach Ansehen als zur eigenen Persönlichkeit gehörig. Tatsächlich meint man oft, nur anderen gehe es um Macht. Diesen gehe es nur nach außen hin um einen Dienst, in Wirklichkeit steckt das Streben nach Macht zutiefst in diesen Menschen.
Das Streben „nach oben“ gehört zu den Grundbefindlichkeiten des Mensch-Seins und verbindet sich fast immer mit einem Streben, das ganz allgemein auf Sicherheit, auf „Macht“ ausgerichtet ist. Grundsätzlich ist nichts dagegen einzuwenden, wenn jemand das eigene Können und persönlichen Einfluss engagiert einbringt. Das gehört sogar zur Entfaltung der Talente und zu einer recht verstandenen Selbstverwirklichung, in der man jenen Platz unter den Menschen einnimmt, der einem entspricht.
Hier geht es jedoch nicht um eine Rechtfertigung für den Gebrauch persönlicher Fähigkeiten (vgl. in übertragendem Sinn Mt 25, 14-30; Lk 19,11-27 – das Gleichnis vom anvertrauten Geld). Für Jesus besteht wahre Größe im Kind-Sein vor Gott – und in der Solidarität mit jenen, die „Kind“ sind. Kind-Sein heißt: sich bedürftig wissen, angewiesen sein, nicht viel gesellschaftlich Anerkanntes geben können, klein sein, leicht übersehen werden, vielleicht sogar deshalb am Rand zu stehen, schwach sein, einfach sein. Die Verheißung, dass in der Aufnahme eines solchen Kindes Jesus selbst aufgenommen wird, gilt dann neben diesen „wirklichen Kindern“ auch jenen „Großen“, die sich zum Kind-Sein bekehrt haben. Jeder Christ ist dazu berufen, vor Gott wie ein Kind zu sein. Ebenso ist er zur Aufnahme ganz besonders jener berufen, die ebenfalls „Kinder“ sind. In diesem Text bleibt der Gedanke an „Mündigkeit“ unberücksichtigt. Vielmehr ist die Unmündigkeit, das Klein-Sein, auch das gegenseitige Annehmen in diesem Schwach-Sein vor Gott aus christlicher Sicht primär.
Eine christliche Konfliktkultur baut auf einer gewissen Gegenseitigkeit auf. Konkrete Probleme werden oft durch eine Sicht bestimmt, die im anderen alles andere sieht als ein Kind. Es gilt daher, dieses Kind-Sein auch in „machtvoll“ auftretenden Christen zu erkennen und sie deshalb offen, herzlich und unkompliziert anzunehmen. Das wäre zudem ein Beitrag für eine unbefangene christliche Geschwisterlichkeit.
Gegenüber dem eigenen Urteil über andere sollte man stets ein Stück Skepsis haben. Niemand kennt sich selbst bis in seine tiefsten Abgründe, geschweige denn jemand anderen. Es ist weiser, nicht unterscheiden zu wollen, ob Jesus „jetzt“ in einem Menschen ist oder nicht. Im anderen mag nicht immer gerade Jesus sein, den ich aufnehme, aber er könnte es sein. Es ist auf jeden Fall besser, den anderen anzunehmen als (möglicherweise) Gott selbst in ihm zurückzuweisen.
Ein anderer Akzent, der des Dienens und der Hingabe als Zeichen der Größe (mit Jesus als bestem Beispiel), ist uns geläufiger. Dieser Stachel im Fleisch des Strebens „nach oben“ macht die christliche Gemeinschaft menschlicher und unkomplizierter als andere Milieus. Denn die Wertschätzung des Einzelnen wird durch das Vorbild und die Kraft der „Großen“ gestützt. Wer dient und dienen will, ist auf dem richtigen Weg. Noch deutlicher: Wer „Sklavendienste“ tut, ist in Wahrheit hochzuschätzen.
Wenngleich es hier um „Regeln für das Gemeindeleben“ (Mt 18) geht, sollte davon das eine oder andere Stück an Inspiration für christlich geprägte Arbeitsverhältnisse übrigbleiben. Dass sich dem sogar Management-Modelle anschließen (der Manager hat die Aufgabe, Befähiger der Mitarbeiter zu sein, und ihnen alles zu ihrem erfolgreichen Tun Nötige zu vermitteln), mag als Bekräftigung verstanden werden.