Konfliktkultur: Oberflächlichkeit - "Richtet nicht nach dem Augenschein"
„Urteilt nicht nach dem Augenschein, sondern urteilt gerecht!“ (Joh 7,24)
Evangelium:
Richtet nicht nach dem Augenschein (Joh 7,24)
Auch ohne Kenntnis der vorangegangenen Diskussion mit den Pharisäern über eine Heilung am Sabbat ist dieser Satz für sich allein verständlich. Was steckt da alles drinnen?
Jesus fordert die Pharisäer auf, doch einmal genau zu überlegen, was geschehen ist: nämlich Heilung! Gerade der Tag des Sabbats ist ein Zeichen des Bundes, der Geschichte Gottes mit den Menschen. Der Sinn des Sabbats ist es, das Heil Gottes gegenwärtig zu zeigen. Genau das geschieht durch Jesus, allerdings nicht nach den üblichen bzw. ausgedachten Regelungen, die den eigentlichen Sinn des Sabbats in den Hintergrund gedrängt hatten. Jesus wundert sich.
Da dieser Konflikt um den Sabbat immer wieder auftaucht, wird Jesus später ärgerlich und zorniger. Denn die Pharisäer sind nicht im Geringsten bereit, auch nur einen Millimeter von ihren festgefahrenen Anschauungen abzugehen. Sie bemühen sich nicht, die Dinge einmal von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten. Jesus fordert sie dazu vergeblich auf. Den Pharisäern genügt der Anblick der Fassade, um die sie sich sorgen. Das Innere des Hauses interessiert sie nicht wirklich. „Richtet nicht nach dem Augenschein“, das heißt: Es ist nicht so, wie es (für euch) scheint.
Im Sinn einer christlichen Konfliktkultur sollte man überlegen, ob der eigene Blickwinkel nicht zu eingeschränkt ist. Hat man sich bemüht, mit verschiedenen Gesichtspunkten ein Ereignis zu betrachten? Wurde bei der Beurteilung einer Situation der Versuch gemacht, Gott und seine Gerechtigkeit in die Überlegungen einzubeziehen? Ist etwas abzulehnen, weil es nicht ins Konzept passt?
Dass es Konzepte braucht, die einzuhalten sind, ist unbestreitbar. Sie müssen jedoch flexibel, offen, hinterfragbar und auf die Einzelsituation hin veränderbar sein.
Die Pharisäer machen im Sinn einer christlichen Konfliktkultur zwei weitere Fehler. Erstens wird aufgrund einer einzigen Differenz ein Mensch in seiner Gesamtheit abgelehnt. Der Dissens zu Jesus tritt so stark in den Vordergrund, dass viele Gemeinsamkeiten nicht mehr bemerkt werden. Von der Geschichte her ist offensichtlich, dass Jesus in der Pluralität der israelitischen Gesellschaft gerade den Pharisäern am nächsten gestanden ist. Die vielen Gespräche und Begegnungen zeigen, dass es zahlreiche Berührungspunkte gibt. Schließlich waren einzelne Pharisäer Anhänger Jesu und er war bei ihnen zu Gast (vgl. Lk 7,36; 13,31; Joh 3,1). Vielleicht war deshalb die Enttäuschung und die Empfindlichkeit zwischen Jesus und den Pharisäern so groß. Man hat nicht verstanden, warum es unüberwindbare Gegensätze gibt, wenn doch manches Grundlegende unbestritten ist.
Aber das liegt an dem zweiten, immer wieder zu Sprache gebrachten Fehler der Pharisäer: ihr mangelnder Blick für eine von Gott kommende Gerechtigkeit, die irdische Vorstellungen und Handlungskriterien übertrifft. Unter Menschen kommt es immer zu Konflikten, aber eine christliche Konfliktkultur weiß, dass alles Geschriebene, Gesagte, Festgelegte und Geplante vor Gott relativiert werden muss. Nur dann hat er eine Chance, dass in den von ihm angesprochenen Menschen Gerechtigkeit errichtet wird.
Im Sinn einer christlichen Konfliktkultur kann dieses „Richtet nicht nach dem Augenschein“ losgelöst von der beschriebenen Auseinandersetzung noch anders gewertet werden. Ereignisse sehen dann nicht nur „schlecht“ aus und sind es doch „gut“, sondern auch umgekehrt. Was augenscheinlich anziehend, gelungen und beeindruckend ist, kann eine Fassade sein, hinter der sich nichts Schönes befindet.
Eine Beurteilung von Situationen oder von Menschen darf nicht vorschnell geschehen. Die Erfahrung zeigt beides: Der wahre Wert kann verborgen sein und man lernt ihn erst kennen, wenn man eine unfreundliche Schale durchdrungen hat. Oder: Was am Anfang so begeisternd ist, erweist sich später als nichtig und hohl.
In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass nicht unbedingt die Bekanntesten, Beliebtesten und Talentiertesten jene sind, die automatisch inneren Tiefgang haben. Manchmal wird Menschen auch dadurch Unrecht getan, weil sie höher eingeschätzt werden, als ihnen zukommt. Und damit fehlt ihnen vielleicht eine Chance zur Umkehr.
Was wirklich vor Gott Wert hat, mag sich eben nicht beim ersten Augenschein zeigen. Das redliche Leben ist unscheinbar und doch groß vor Gott. Die alltäglichen Bemühungen als Mitmensch zählen mehr als die Organisation großer Veranstaltungen und die Durchführung beeindruckender Projekte. Kleine Aufmerksamkeiten sind bedeutsamer als einzelne großartige Bezeugungen von Dank und Zuneigung. Die kleinen Gespräche und die aufmunternden Worte zwischendurch sind wichtiger als niveauvolle Diskussionen mit angesehenen Partnern. Der Kontakt mit einfachen Menschen ist vielleicht wesentlicher, als wenn angesehene Persönlichkeiten im Haus ein- und ausgehen. Eine christliche Konfliktkultur wird versuchen, den Dingen auf den Grund zu gehen.