Jesus aus Nazareth war ein Sohn des jüdischen Volkes. Er lebt als Jude ganz unter der Tora und starb als Jude.
Für die kirchliche Tradition ist zwar das Mann-Sein-Jesu durchaus von Bedeutung, aber sein Jude-Sein hat in der Praxis nicht diese Relevanz. Auch die Evangelien werden nicht als jüdische Quellen gelesen.
Jesus predigte die Tora als Evangelium. Mit der Entdeckung des Juden Jesus kann eine aus der Tora inspirierte Praxis der Kirche wachsen. Es stärkt die prophetische Tradition im Christentum.
Leitlinien für die Interpretation des Evangeliums sind die programmati-schen Sätze „Auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes wird vergehen“ (Mt 5,18) bzw. „Tut und befolgt also alles, was sie (die Pharisäer) euch sagen“ (Mt 23,3). Wir können das gesamte Auftreten Jesu als „Gnadenjahr des Herrn“ (Lk 4,19) deuten.
Ein erneuertes Verständnis, wie Jesus Gesetz und Propheten „erfüllt“, bedeutet: Die Tora „wird als gültig vorausgesetzt, inhaltlich bestätigt und vor allem endlich befolgt und praktiziert.“ (Crüsemann)
Eine Annäherung an den Juden Jesus schließt den Dialog mit der lebendigen jüdischen Tradition mit ein. Denn wir wollen kein hypothetisches Judentum konstruieren und dürfen das Judentum nicht berauben.
Wir sehen am rabbinischen Judentum, wie man heutige religiöse Verpflichtungen auf der Basis von Traditionen leben kann. Auch wir müssen unsere Traditionen weiter schreiben, denn wir werden das Leben Jesu und seine Verkündigung nicht fraglos auf heute übertragen können.
Dieses Einüben in einen Dialog mit dem Anderen – am Beispiel des Judentums – ist eine Fähigkeit, die wir in dieser multikulturellen und multireligiösen Welt mehr und mehr brauchen. Die Verbindung vom Ursprung des Christentums mit einem lebendigen und praktischen Bezug für heute können weder rein philosophische Gottes-Konzepte noch am Lehrbuchwissen orientierte Ansätze bieten.
Die Wahrnehmung des Jüdischen in Jesus darf nicht eine folkloristische Kopie des Judentums sein. Die Kirche wird hier einen neuen Traditionsstrang begründen, für den es keine Vorbilder gibt.
Wenn wir die jüdische Identität Jesu ernst nehmen, wird unsere christliche Verkündigung auf den einen und einzigen Gott Israels fokussiert.